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Cité Grand du Parc Bordeaux von Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal



Der Pritzker Preis 2021

Radikales Umdenken in der Stadtproduktion als Chance für die Einladung der Klimaziele und die Stadt als Ort für menschliches Zusammenleben


Die Verleihung des Pritzker-Preises 2021 für Architektur an das französische Architektenduo Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal ist die zarte Pflanze eines kulturellen Wandels in der Architektur. Der Preis würdigt eine Architektur, die einen bedeutenden Beitrag für die Menschheit und die gebaute Umwelt darstellt. Das Werk der Preisträger*in kündet auch von der Macht der Architekten die Stadtproduktion im Sinne des Klimaschutzes zu gestalten und dabei soziale Belange nicht außer Acht zu lassen. In ihrem gut 40-jährigen baulichen Schaffen haben Lacaton/Vassal noch kein einziges Gebäude abgerissen. Dementsprechend sah auch der Wettbewerbsbeitrag für einen Sozialwohnungsbau in Bordeaux, die Cité Grand du Parc Bordeaux, für den das Büro 2019 den Mies van der Rohe Award verliehen bekam, anstatt des geforderten Abrisses den Erhalt und Umbau der 530 Sozialwohnungen aus den 1960er Jahren vor.


Die Pritzker-Jury betonte, der architektonische Denkansatz der Preisträger erneuere nicht nur das Erbe der Moderne, sondern stelle auch eine Anpassung des Berufsverständnisses der Architekten selbst dar. Der Traum und das Versprechen der Moderne, das Leben der Massen zu verbessern, würden durch ihr Werk, das dem gegenwärtigen klimatischen und ökologischen Notstand Rechnung trage, insbesondere auf dem Gebiet des städtischen Wohnens wiederbelebt. Mit ausgeprägtem Sinn für Raum und Material setzten sie das um, so die Jury, und schüfen dadurch eine Architektur, deren Gestaltung genauso stark sei wie ihre Überzeugungen – mit einer Ästhetik, die ebenso transparent sei wie ihre Ethik.(1)



In den Bauten der beiden Architekten kommt eine Grundhaltung zum Ausdruck, die die anstehenden wirtschaftlich-ökologisch-sozialen Herausforderungen und städtischen Transformationsprozesse als Chance und Möglichkeitsraum betrachtet. Energetische und soziale Probleme könne man nicht durch Abriss lösen, der Erhalt des Bestandes sei zentral für die Idee der Nachhaltigkeit, erläuterte Philippe Vassal im Interview.(2) Nachhaltigkeit in ihrer ganzheitlichen Definition wird hier als konzeptioneller Ansatz konsequent umgesetzt. Auch Anne Lacaton unterstreicht den Wert des Existierenden, beschreibt Transformation als Möglichkeit das Bestehende zu verbessern. Abriss sei eine Entscheidung der Leichtfertigkeit und Kurzfristigkeit, eine Verschwendung vieler Dinge – von Energie, Material und von Geschichte. Zudem habe Abriss negative soziale Auswirkungen. Abriss ist ein Gewaltakt, konstatierte Anne Lacaton bei der Preisverleihung.(3)


Zukunftsfähige Städte im Sinne eines inklusiven Leitbildes – Städte für (alle) Menschen


Es gehe um die soziale Aufgabe der Architektur, das ,Recht auf Stadt’ für Alle, und die Frage inwieweit Geringverdiener zukünftig am Wohnen, das gewisse Bedürfnisse erfüllt, in den Innenstädten teilhaben könnten. Dahinter steht die „Erkenntnis, dass Architektur mehr ist, als ein Programm auf einem Baugrund.“(4)

Lacaton/Vassal wollen mit ihrer Arbeit den Menschen dienen – Architektur könne für die gesamte Gesellschaft gemeinschaftsbildend wirken.(5) Deshalb sind nicht High- Tech-Materialien und selbstreferenzielle Leuchttürme architektonisches Ziel, sondern der konzeptionelle Umgang mit Raum, Licht und klimatischen Verhältnissen im Sinne der Bewohner und des Vorgefundenen. Architektur muss sich den Menschen und dem Ort anpassen, erfüllt keinen Selbstzweck. Im Gegenteil konstatiert J.P. Vassal: „Architektur passiert, wenn Menschen darin leben.“(6)

Der Interventions-Ort mit seinen menschlichen, tierischen und pflanzlichen Bewohnern ist in „seiner ganzen Komplexität, dem Reichtum, den Störungen und Qualitäten der Stadt“ der Ausgangspunkt eines partizipativen Architekturentwicklungsprozesses, Tabula rasa gibt es nicht. (7)

Nicht Defizite sehen, sondern Möglichkeitsräume – die Qualitäten des Vorgefundenen respektieren, die Identitäten des Ortes und ihre Bedeutung für den Sozialraum verstehen. Daher begreifen sie „Abriss als Akt der Gewalt. Genauso wie unnötige Eingriffe in die Umwelt.“ Mit dem Vorhandenen umgehen, „mit weniger mehr erreichen“ – weniger Ressourcen, dafür mehr architekturpolitische Programmatik.(8)

Insofern ist der Pritzkerpreis auch ein eindeutiges Statement für eine andere Baukultur – gegen die ubiquitäre Praxis von Abriss und Neubau analog zur Kostenlogik der Bauwirtschaft. Lacaton/Vassal machen vor, wie es geht, jenseits von eingefahrenen Handlungsmustern und verselbständigten Strukturen des Bauwesens nachhaltig zukunftsorientiert zu bauen.


Anmerkungen

1 https://www.pritzkerprize.com/laureates/anne-lacaton-and-jean-philippe-vassal (01.06.21) 

2 Interview mit Antonia Herrscher, in: taz am wochenende, 15./16.05.21, S.49

3 wie Anmerkung 1

4 wie Anmerkung 2 

5 wie Anmerkung 1 

6 wie Anmerkung 2 

7 ebenda

8 ebd.


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